Mental gesund am Arbeitsplatz: Im Gespräch mit Arbeitswissenschaftlerin Prof. Dr. Nadine Pieck

// Bildrechte: Nadine Pieck

Die digitale Transformation verändert die Arbeitswelt in rasantem Tempo. Automatisierung, künstliche Intelligenz und neue Technologien schaffen nicht nur neue Chancen, sondern stellen Unternehmen und Mitarbeitende zunehmend vor große Herausforderungen. Während Flexibilität und Produktivität steigen, wachsen gleichzeitig der Druck und die Anforderungen an den Einzelnen. In diesem Spannungsfeld rückt die Gefährdung der seelischen Gesundheit am Arbeitsplatz immer stärker in den Fokus, was sich auch in Zahlen deutlich erkennen lässt: Laut Deutschland Barometer 2021 der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention wurde bei jedem fünftem Beschäftigten in Deutschland schon einmal eine Depression diagnostiziert. Auch in Sachsen-Anhalt ist diese Entwicklung deutlich zu erkennen: Die Arbeitsunfähigkeits-Quote aufgrund psychischer Erkrankungen lag 2023 in Sachsen-Anhalt bei 10,4 Prozent. Das ist im Vergleich zum Vorjahr 2022 (AU-Quote: 9,3 Prozent) ein Plus von 12 Prozent (Quelle: AOK Sachsen-Anhalt). Wie also können wir in Zeiten ständiger Erreichbarkeit und zunehmender digitaler Belastung einen gesunden Umgang mit Stress, Überforderung und mentaler Erschöpfung finden?

Im Vergleich zu den anderen Krankheitsarten kommt den psychischen Erkrankungen nach wie vor eine besondere Bedeutung zu. Seit 2012 haben die Krankheitstage aufgrund psychischer Erkrankungen um 48,4% zugenommen (Stand 2022 aus dem Fehlzeiten-Report 2023 der AOK). Grund für die Zunahme ist zum einen die Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen und die höhere Bereitschaft von Patient*innen, sich zu öffnen. Zum anderen spielen höhere Belastungen am Arbeitsplatz eine große Rolle. Gesellschaftliche Veränderungen machen demnach die Erkrankungen sichtbarer und die Auswirkungen gravierender (Prof. Dr. Stefan Watzke; Vorsitzender des Bündnis gegen Depression Halle-Magdeburg). 

Studien belegen, dass Arbeitsumfeld und Arbeitsbedingungen einen eindeutigen Einfluss auf die Gesundheit der Beschäftigten haben können, sowohl auf die seelische als auch auf die körperliche. Laut Informationen des Bundesministeriums für Gesundheit steigt durch andauernde Arbeitsbelastungen das Risiko, an einer psychischen Störung zu erkranken, um 50 Prozent. Unter den psychischen Erkrankungen sind Depressionen und Angststörungen die häufigsten Diagnosen. Dabei spielen verschiedene Einflussfaktoren eine Rolle, wie z.B. die Gestaltung der Arbeitszeit, das Gemeinschaftsgefühl, Betriebsklima und Führung sowie die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben. 

Anlässlich der Woche der Seelischen Gesundheit, welche vom 10.10. bis 20.10.24 stattfindet und vom Aktionsbündnis Seelische Gesundheit initiiert wurde, wollten wir tiefere Einblicke in dieses wichtige Themenfeld gewinnen und führten dazu ein Interview mit Arbeitswissenschaftlerin Prof. Dr. Nadine Pieck.

Sie ist Mitarbeiterin am Institut für interdisziplinäre Arbeitswissenschaft an der Leibniz Universität Hannover. Sie beschäftigt sich seit über 20 Jahren im Bereich des betrieblichen Gesundheitsmanagements mit besonderem Blick auf die Gender-Perspektive. Neben ihrer Arbeit an der Universität begleitet sie mit ihrer eigenen Firma Unternehmen rund um die Themen geschlechtergerechte, gesundheitsfördernde Organisationsentwicklung.

Wir stiegen mit der Frage nach typischen Belastungen und Risiken für die seelische Gesundheit am Arbeitsplatz in das Interview ein.

Frau Prof. Dr. Pieck betonte zunächst, dass „viele dieser Faktoren […] sich nicht nur auf unsere seelische oder psychische Gesundheit aus[wirken], sondern […] auch auf unsere körperliche Gesundheit […]“. Als typische Belastungen und Risiken nennt sie unter anderem die folgenden Aspekte: Organisation und Führung, Arbeitsplatzunsicherheit, mangelnde Anerkennung bei hoher Leistungsbereitschaft, Arbeitsintensität und Zeitdruck, Störungen und Unterbrechungen, Wochenendarbeit, Schichtarbeit sowie erweiterte Erreichbarkeit bei flexiblen Arbeitszeitmodellen und der damit verbundenen fehlenden Erholung.

Anschließend wollten wir genauer wissen, was Unternehmen tun können, um diesen Risikofaktoren vorzubeugen oder deren negative Auswirkungen zu reduzieren. Frau Prof. Dr. Pieck ist der Ansicht, dass es hierbei besonders auf den Führungsstil im Unternehmen ankommt. Ein destruktiver Führungsstil, bei welchem abwertend oder verletzend kommuniziert wird, schadet erheblich. Aber auch Führungskräfte, die soziale Prozesse ignorieren, können Konflikte und Überlastungen verstärken. Ein gesundheitsorientierter Führungsstil hingegen kann sich äußerst positiv auf die seelische Gesundheit der Belegschaft auswirken. Damit meint sie unter anderem eine wertschätzende und empathische Haltung gegenüber den Mitarbeitenden. Führungskräfte sollten aktiv zuhören und regelmäßig Feedback geben, um zu zeigen, dass sie ihre Mitarbeitenden wahrnehmen und respektieren. Dabei betont die Professorin die Bedeutung von strukturierten Gesprächen. Hierbei sollten Führungskräfte nicht nur die Leistung bewerten, sondern auch nach dem Wohlbefinden und den Bedürfnissen fragen. Diese Gespräche schaffen einen wichtigen Raum, um Überlastungen oder Konflikte frühzeitig zu erkennen​. Ihr Rat lautet, „früh darüber zu sprechen und zu schauen, worum es eigentlich geht, bevor sich Konflikte verschärfen.“ Führungskräfte müssen erkennen, dass Mitarbeitende unterschiedliche Bedürfnisse haben. Während die einen beispielsweise mehr Anleitung benötigen, legen die anderen mehr Wert auf Freiheit in ihrer Arbeitsgestaltung.

Sie beschreibt weiter, dass es allerdings nicht nur auf das Verhalten der Führungskräfte ankommt, sondern auch auf bestimmte Bedingungen, die in einem Unternehmen vorherrschen sollten. So kommt es unter anderem auf die Art und Weise der Arbeitsorganisation und die Handlungs- und Gestaltungsspielräume für die Mitarbeitenden an. Es ist ebenfalls wichtig, dass sich Mitarbeitende auch zugehörig fühlen möchten, was z.B. im Homeoffice nicht immer gelingt. Ebenso von Bedeutung ist, dass sie ihre Bedürfnisse und Bedarfe äußern können und auch ein gewisses Mitbestimmungsrecht in Bezug auf Arbeitsaufgaben und eigene Ressourcen haben. Frau Prof. Dr. Pieck merkt an, dass es sich hierbei um den Aspekt der „organisationalen Gerechtigkeit“ handelt, bei welcher sich die Frage stellt, „ob die Prozesse überhaupt so gestaltet sind, dass ich mich einbringen kann“. 

Gleichzeitig appelliert sie an die Mitarbeitenden selbst, sich aus eigener Initiative für ihr Wohlbefinden am Arbeitsplatz einzusetzen, indem sie sich zum Beispiel Feedback aktiv einholen, bewusst Pausen machen und Wege zum Abschalten suchen.

Vor allem das „Abschalten“ fällt in der schnelllebigen, digitalen Arbeitswelt oftmals schwer. Uns interessierte daher, wie sich die digitale Transformation von Arbeit auf die seelische Gesundheit auswirkt. Frau Prof. Dr. Pieck führt dazu an, dass zentrale Risiken die Arbeitsintensität und der Zeitdruck sind, die durch digitale Tools und ständige Erreichbarkeit verstärkt werden. Mitarbeitende sind oft gefordert, mehrere Aufgaben gleichzeitig zu bewältigen, was zu Stress und Erschöpfung führt. Erschwerend hinzu kommt der sogenannte „Technikstress“. Darunter zu verstehen ist zum Beispiel das häufige Anwenden neuer digitaler Tools, die Unzuverlässigkeit von Technik, die stetige Automatisierung und die fehlende Beteiligung an Digitalisierungsprozessen im Unternehmen. Die zunehmende Flexibilität, die durch die Digitalisierung möglich wird, bietet viele Chancen, birgt aber auch Risiken. So kann die Arbeit von zu Hause zwar die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben erleichtern, führt jedoch auch zu Vereinsamung und Isolation, wenn soziale Kontakte im Büro fehlen. Wenn beispielsweise Kinderbetreuung daheim eine Rolle spielt, kann eine Mehrfachbelastung entstehen. Zudem stellt die Selbstorganisation, die im Home-Office nötig ist, für viele eine Herausforderung dar und erzeugt zusätzlichen Druck. Flexibles Arbeiten wirkt sich also nur dann positiv auf das Wohlbefinden aus, wenn es selbst gesteuert werden kann. 

Zum Abschluss des Interviews macht sich Frau Prof. Dr. Pieck für das betriebliche Gesundheitsmanagement stark, welches für die beschriebenen Herausforderungen einen guten Lösungsansatz bieten kann. Dieses umfasst alle Aspekte eines Unternehmens, die Einfluss auf die Gesundheit der Mitarbeitenden haben und verfolgt das Ziel, die Gesundheit der Beschäftigten zu erhalten und zu fördern. Gesundheit und Wohlbefinden sind eine zentrale Grundlage für die Leistungsfähigkeit und den Erfolg des Unternehmens insgesamt – aber auch für Beschäftigte ist es wichtig, sich selbst als kompetent zu erleben und an Erfolgen teilzuhaben. Die Professorin spricht sich dafür aus, die digitale Transformation selbst zu einem wichtigen Schwerpunkt in der Planung und Umsetzung des betrieblichen Gesundheitsmanagements zu machen: „Es ist wichtig, Mitarbeitende direkt in Digitalisierungsprozesse einzubeziehen.“

Wir bedanken uns bei Prof. Dr. Pieck für das Interview und die vielen spannenden Ausführungen zu diesem komplexen, wichtigen Thema.

Wir halten fest: Die digitale Transformation sorgt für viele Veränderungen in der Arbeitswelt, die sowohl positive als auch negative Auswirkungen auf die seelische Gesundheit haben können. Unternehmen müssen aktiv Maßnahmen ergreifen, um diese Risiken zu minimieren. Eine menschengerechte Arbeitsgestaltung, soziale Unterstützung und betriebliche Gesundheitsprogramme sind dabei der Schlüssel zum Erfolg. Dabei können Führungskräfte maßgeblich Einfluss auf die Förderung der seelischen Gesundheit ihrer Mitarbeitenden nehmen, indem sie wertschätzend führen, für klare Strukturen und Unterstützung sorgen und eine gesunde Balance zwischen Anforderungen und Ressourcen schaffen. Nur so kann gewährleistet werden, dass Mitarbeitende auch in Zeiten ständiger Veränderung psychisch gesund bleiben und ihr volles Potenzial entfalten können.

Nele Heindörfer
Beratung und IQK-Workshops, Forschungsinstitut Betriebliche Bildung (f-bb)

Clemens Kellner
Beratung und Öffentlichkeitsarbeit, Forschungsinstitut Betriebliche Bildung (f-bb)

Sarah Puck
Öffentlichkeitsarbeit, Forschungsinstitut Betriebliche Bildung (f-bb)